Die unter “Erfolgsgeschichten” aufgeführten Beispiele stehen stellvertretend für viele, „erfolgreiche“ junge Leute aus der Wohngemeinschaft Tres Soles und dem Studenten- und Lehrlingsheim Luis Espinal. Nicht nur unter dieser Rubrik, sondern auch unter der Rubrik „Menschen im Projekt“ kann man bei näherem Hinschauen Erfolge feststellen, die durch nachstehende Erkenntnisse und Aussagen von den Kindern und Jugendlichen untermauert werden, deren größte Herausforderung es ist, sich in einen strukturierten Tagesablauf einfügen zu müssen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen: Meine Meinung über die Straßenkinder ist, sie sind nur auf der Straße, weil ihre Eltern sie nicht als Kinder wollen und sie vom Klauen leben müssen.
Mein Lieblingsspruch ist:
- Im Mund des Lügners wird selbst die Wahrheit zweifelhaft - Meine negativen Eigenschaften: Ich erledige meine Sachen nicht pünktlich. - In 10 Jahren möchte ich berufstätig sein. - In meiner Freizeit lese ich gern (Paulo Coelho, García Márquez, Albert Camus und weitere) und mache Musik mit der Gitarre (klassische Musik).
1. Limbert
Mein Name ist Limbert Aramayo Villca und ich bin am ersten Januar 1982 in der Provinz Andrés Ibáñez in der Nähe der Stadt Santa Cruz geboren. Mein Vater ist Esteban Aramayo und ist 50 Jahre alt. Meine Mama, die schon gestorben ist, hieß Fortunata Villca. Ebenfalls ist auch meine Schwester schon mit 24 Jahren gestorben.
Meine Brüder heißen Juan, 27 Jahre alt,der Elektriker ist und José, der 25 Jahre alt ist.
1992, als ich 10 Jahre alt war, hatte ich einen Unfall, bei dem ich beide Arme verlor. Damals arbeitete ich in einer Ziegelfabrik. In Santa Cruz lebte ich bis zu meinem 24. Lebensjahr. Dann kam ich nach Cochabamba und trat in das Lehrlings- und Studentenheim Luis Espinal ein.
Gerade habe ich mein Studium als Betriebswirt an der Universität Mayor de San Simón abgeschlossen. Auch erwarb ich das Diplom in Personalmanagement.
Ich nehme an den Versammlungen des neuen Vereins der Gemeinde von Colcapirhua, der sich der Zusammenarbeit mit Behinderten widmet, teil.
Mein Hobby ist es Fußball zu spielen, deswegen spiele ich in einem Fußballverein im Ortsteil Sumumpaya, der sich "Libertad" nennt. Wir trainieren jeden Dienstag, Donnerstag und Freitag. Meine anderen Hobbys sind Musik hören, Computer spielen und Zeit mit Freunden verbringen.
Limbert Aramayo Villca wechselte mit Beginn 2013 als Verwalter nach Tres Soles.
2. Freddy
Freddy wurde in El Alto geboren und seine Familie war, wie leider so oft in diesen Fällen, vom Vater verlassen worden. Seine Mutter war Händlerin und konnte die Kinder kaum ernähren. Freddy und sein älterer Bruder Federico arbeiteten auf dem Zentralfriedhof von La Paz als „Blumengießer“, bevor sie zu uns in die Wohngemeinschaft kamen. Beide waren intelligent und die Schule machte ihnen keine Mühe. Freddy war eines der Gründungs-mitglieder unserer Theatergruppe „Das blaue Auge“. Er nahm die Theaterarbeit sehr ernst, viel ernster als die anderen. Schon bald träumte er davon, ein Profischauspieler zu werden. Er liebte ebenso die Musik und spielte auch sehr gut Gitarre und schrieb alle Lieder und die Begleitmusik für unsere Theaterstücke selbst. Andererseits war er sehr empfindlich und nicht leicht zu behandeln. Die anderen beäugten ihn immer ein wenig misstrauisch. Sie hielten ihn für einen Streber, da er sich immer viel Mühe gab, ob zuhause oder in der Schule. Freddy hatte ständig unglückliche Liebschaften, die ihn manchmal wochenlang in Depressionen stürzten. Einmal kam er humpelnd und mit einem verbundenen Arm zu den Proben. Wir wussten, dass wir an diesem Tag nicht mit Freddy und seinen Einfällen rechnen konnten. Aber wir wussten auch, dass er trotz seiner Verstauchungen und Prellungen übermorgen pünktlich und hochmotiviert auf den Brettern stehen würde. Er war eine der Hauptstützen unserer Theaterarbeit und er hätte nicht eine einzige Aufführung platzen lassen, nur über seine Leiche. Bei all unseren Theaterstücken hat Freddy immer eine Hauptrolle gespielt, bis er nach dem Erfolg mit dem „Kleinen Prinzen“ vom Andentheater, einer unabhängigen Profitruppe, als Schüler eingeladen wurde. Ziel des Andentheaters, Anfang der Neunzigerjahre vom argentinischen Regisseur César Brie gegründet, war es, eine eigene Theatergruppe zu etablieren und junge Schauspieler auszubilden. Er ließ sich in Yotala, in der Nähe von Sucre, nieder. Das Andentheater wurde bald zu einem Meilenstein für das bolivianische und südamerikanische Theater. Für Freddy wäre es Jahre zuvor, als er noch Blumen auf dem Friedhof bewässerte, unvorstellbar gewesen, dass er eines Tages Teil eines solch bedeutenden Theaterprojekts sein und mit ihm um die halbe Welt reisen würde.
3. Joaquín
Als Joaquín zu uns kam, war er so struppig, verschmutzt und verwildert, dass er von allen „Bär“ genannt wurde. Wir fragten ihn: „Willst Du dich nicht duschen?“ „Nein, ich will nicht.“ „Oder wenigstens deine Kleider waschen?“ „Nein!“ „Aber morgen fängt die Schule an...“ „Ich will nicht in die Schule gehen.“ „Joaquín, du weißt genau, dass Du in die Schule gehen musst.“ „Lasst mich in Ruhe!“ Er wollte auch sonst nichts machen. Er schnüffelte Schusterleim, dachte sich grobe Scherze aus und lief mehrere Male weg. Das änderte sich erst, als er in unserer Kartenwerkstatt das Zeichnen und Malen lernte. Unter der geduldigen Anleitung Alfredos, eines Betreuers, der leider nicht lange bei uns blieb, lernte Joaquín kleine Motive für Glückwunschkarten zu malen. Ungefähr zur selben Zeit engagierte sich Oscar, Fifa-Schiedsrichter und Fußballtrainer, in unserer Wohngemeinschaft und wie durch ein Wunder änderte sich von da an Joaquíns Leben. Plötzlich wusch er sich, kämmte sich, wurde ordentlich, lief nicht mehr davon und ging zur Schule - und nicht nur das, denn je besser seine Bilder wurden und je mehr Tore er auf dem Fußballplatz schoss, desto besser wurde er auch in der Schule, bis er der beste Maler, der beste Fußballspieler und der beste Schüler der Wohngemeinschaft war. Auch wenn er ein ausgesprochener Einzelgänger war, so war mit ihm die Fußballmannschaft unserer Wohngemeinschaft sehr erfolgreich und heimste viele Siege bei lokalen Jugendturnieren ein. Darüber hinaus wurden durch ihn viele Jungen und Mädchen zum Malen motiviert. Es entstanden nicht nur unzählige Karten, mit deren Verkauf zum Unterhalt der Wohngemeinschaft beigetragen wurde, sondern im Verlauf der Jahre entstanden in den Zimmern und Gemeinschaftsräumen die schönsten Wandmalereien aus Menschen, Tieren, Blumen und Landschaften bestehend. Joaquín ist heute Sportlehrer und Kunstmaler.
4. Carolina
Carolina hatte schon früh ihre Mutter verloren und ihr Vater hatte sich nie um sie und ihre zwei Geschwister gekümmert. Es waren schon mehrere Jahre vergangen, seit sie nach einer Lehre als Friseuse die Wohngemeinschaft verlassen hatte. Meine Frau Guisela und Maria, eine unserer Betreuerinnen, waren bei Carolina in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in El Alto zu Besuch. Carolina war jetzt verheiratet und hatte drei Kinder. Im Wohnzimmer stand ein Schrank mit Geschirr und ein kleiner Fernseher. Durch die Tür des Schlafzimmers konnte man mehrere, eng aneinander geschobene Betten mit farbigen Überwürfen sehen. „Der Älteste geht schon in die Schule“, sagte Carolina stolz. Sie hatte allen Grund, stolz zu sein, denn sie lebte im Vergleich zu Millionen von Bolivianerinnen und Bolivianern recht gut. „Was macht dein Mann?“, fragte Guisela. „Mein Mann ist Musiker bei der städtischen Blaskapelle“, antwortete Carolina. „Er ist ein guter Kerl, aber er ist halt wie alle Männer. Manchmal trinkt er an den Freitagabenden, wenn ihn seine Kollegen einladen. Aber er ist nicht gewalttätig, wenn er nach Hause kommt.“ „Was für ein Glück, dass nicht alle so sind“, sagte Maria. „Oh, wenn ich daran denke, wie mein Vater alles zusammenschlug, wenn er betrunken nach Hause kam, wird mir jetzt noch Angst und Bang!“ „Kam das häufig vor, Carolina?“ „Mindestens drei oder vier Mal die Woche. Wenn er am Abend fortging, wussten wir, dass er betrunken zurückkommen würde. Wir Kinder versteckten uns dann unter dem Bett und schliefen dort auf dem Boden. Früher hat uns unsere Mutter beschützt, aber er schlug sie eines Tages so, dass sie starb.“ „Davon hast du uns früher nie erzählt“, meinte Guisela. „Nein, ich habe mich so schrecklich für meinen Vater geschämt.“ „Und deswegen kamst du auch ständig betrunken vom Ausgang in die Wohngemeinschaft zurück, stimmt’s?“ „Ja, richtig, es fiel mir sehr schwer, darüber hinwegzukommen“, erwiderte Carolina. In diesem Moment betrat eine Kundin den Salon im unteren Stock und Carolina entschuldigte sich. Als sie gegangen war, fragte Maria: „Kannst du dich erinnern, wie Carolina sich einmal völlig betrunken und schreiend im Schlamm vor dem Haus wälzte?“ „Natürlich, wie könnte ich das jemals vergessen!“, erwiderte Guisela. „Ich glaube, sie hatte sich vorher mit einem Freier gestritten, der sie nicht bezahlen wollte.“ „Stell dir vor, diese dreizehn- und vierzehnjährigen Mädchen als Prostituierte, für ein paar Pesos ... es ist schwer zu glauben.“ „Es ist noch schwerer zu glauben, dass Carolina es geschafft hat, aus diesem Sumpf herauszukommen. Dazu braucht es einen starken Willen, den die Wenigsten haben.“ Carolina kam zurück und zählte das Geld, das sie eingenommen hatte. „Ich bin unabhängig vom Lohn meines Mannes“, sagte sie selbstbewusst. „Zwar gibt mir mein Mann das Geld, das er verdient, aber es ist nicht gerade viel.“ „Es ist toll, wie du das alles machst, Carolina“, sagte Guisela. „Wenn nur alle ihre Chance so genutzt hätten wie du.“ „Ja, es tut weh, meine ehemaligen Freundinnen auf der Straße zu sehen.“
5. Bruno
Bruno kam zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Edmundo 1994 zu Tres Soles. Die beiden waren die Jüngsten von sechs Geschwistern, die ein Jahr nach Brunos Geburt ihre Mutter verloren hatten. „Wir bekamen eine Stiefmutter“, erzählte Edmundo. „Der Vater schlug uns ständig und fesselte meinen kleinen Bruder tagelang ans Bett, wenn er unartig war.“ Bruno war acht, als das Jugendamt eingriff, wirkte aber wie fünf oder sechs Jahre alt und hatte den für Unterernährung sehr typischen vorgewölbten Bauch. Bruno war bisher weder in den Kindergarten noch in die Schule gegangen. Mir war von Anfang an aufgefallen, dass er ein ausgesprochen bildhaftes Vorstellungsvermögen hatte und mit Abstraktem wenig anfangen konnte. Während vieler Jahre konnte er nur mithilfe von Steinchen oder Maiskörnern Rechenaufgaben lösen. Sein Bruder Edmundo hatte zwar diesbezüglich kein Problem, aber stattdessen bekam er bald ein anderes, nämlich ein Alkoholproblem. Das Alkoholproblem dürfte die Folge seines frühen Konsums von Schnüffeldrogen wie Schusterleim oder Benzin gewesen sein, das er sich auf der Straße beschaffte, wenn er vor seinem gewalttätigen Vater flüchtete - was sehr häufig vorkam. Von dieser Alkoholabhängigkeit konnte er sich nie befreien, auch als Erwachsener nicht. Bruno und Edmundo nahmen von Anfang an an der Theatergruppe teil. Während Bruno sehr diszipliniert war, war auf Edmundo wenig Verlass. Schließlich gab er das Theaterspielen ganz auf. Heute arbeitet er als Anstreicher. Bruno, während er in Tres Soles lebte – und das waren immerhin 17 Jahre! – hat hingegen kein einziges der Theaterstücke, die Ojo Morado in jenen Jahren produziert hat, ausgelassen. In ‚Das Fantasieland’, das erste Stück, in dem er mitgewirkt hat, spielte er eines der Fantasiewesen, die einen Schuhputzerjungen aus seinem elenden und grauen Leben in der Großstadt in ein buntes Fantasieland ent-führen. Unvergesslich bleiben mir die Rollen, die er als Neun- beziehungsweise als Elfjähriger im ‚Kleinen Prinzen’ und im ‚Kinderkreuzzug’ gespielt hat. Im Stadttheater von La Paz, im Stück ‚ Der kleine Prinz’, setzt er sich als Huhn mit Eiern gegen einen Fuchs zur Wehr und verfährt ebenso mit dem ehrwürdigen Publikum, das er stellvertretend für die Gesellschaft mit Eiern bewirft. Im ‚Kinderkreuzzug’ von Brecht befreit er als kleiner Clown die anderen Kinder aus der Gewalt ihrer Eltern, die einen unerbittlichen Krieg gegeneinander führen. Durch den Erfolg, den wir besonders mit diesen beiden letztgenannten Stücken hatten, lernte Bruno gemeinsam mit seinen Mitspielern ganz Bolivien, die Nachbarländer Chile und Argentinien und schließlich sogar Deutschland und die Schweiz kennen. Nun muss es nicht unbedingt der Fall sein, dass die Rollenwahl etwas über die Charaktereigenschaften eines Schauspielers oder einer Schauspielerin aussagt. Auf alle Fälle wählte Bruno bald schon, trotz seines jugendlichen Alters, eher autoritäre und aggressive Rollen aus. In ‚Der Fluch oder das Ende des Inkareichs’ spielte er einen Inkakrieger und in ‚Der Herr der Fliegen in Bolivien’ die Figur des Jack, desjenigen Jungen, der eine ganze Gruppe von Kindern zu Mord und Totschlag anstiftet. Bruno befand sich zu jener Zeit in einem schwierigen Loslösungsprozess, den bekanntermaßen alle Pubertierenden mehr oder weniger heftig durchleben. Da es in seinem Fall keine Eltern gab, richteten sich seine Ausbrüche oft gegen uns, die die elterliche Ersatzgewalt darstellten. Die Schule fiel ihm schwer, doch er benötigte das Abitur, um die von ihm so heiß begehrte Schauspielausbildung an der neu gegründeten Theaterfachschule in Santa Cruz machen zu können. Heute arbeitet Bruno als unabhängiger Schauspieler und Theaterlehrer, der zwischen Cochabamba und Santa Cruz hin und her pendelt.
Stefan Gurtner Februar 2017
6. Hugo
Einen Tag vor dem 28. Geburtstag von Tres Soles hatten wir eine angenehme Überraschung. Zum ersten Mal nach über 10 Jahren besuchte uns Hugo, eines der Gründungsmitglieder der Wohngemeinschaft. Hugo hatte, wie alle Kinder, die zu uns kommen, eine äußerst schwierige Kindheit. Er hatte mit seiner Mutter in El Alto gelebt. Es gab Schwierigkeiten mit seinem Stiefvater. Er riss mehrere Mal von zuhause aus und schloss sich einer Gruppe von Straßenkindern an, von denen er alles lernte, was eben zu einem Leben auf der Straße dazugehört. Schließlich kam er zu uns. Über seine Mutter und übers Jugendamt konnten wir eine Tante in Tarija ausfindig machen. Nach einem längeren Gespräch war Hugo bereit, zu seiner Tante zu ziehen. Aber groß war unsere Überraschung, als er nach wenigen Wochen wieder erschien. „Meine Tante schickt mich mit diesem Brief“, sagte er. Wenn Hugo sprach, wurde man unwillkürlich an ein gackerndes Huhn erinnert. Seine Stimme und sein langer Hals, auf dem der Kopf meistens unruhig hin und her zuckte, brachten ihm den Spitznamen ‚Huhn‘ ein. In Bolivien ist es üblich, dass jeder und jede einen Spitznamen erhält. In dem Brief der Tante stand u.a. folgendes: „Es wäre gut, wenn ihr euch in der Wohngemeinschaft mit der Erziehung der Kinder und Jugendlichen, die ihr betreut, ein bisschen mehr Mühe geben würdet: 1.) hat Hugo keine Ahnung, was Hygiene bedeutet. Es war mir nicht möglich, ihm beizubringen, dass man sich regelmäßig duscht. Als ich ihn fragte, ob man ihn denn in der Wohngemeinschaft nicht dazu gezwungen habe oder ob er nicht wenigstens kontrolliert wurde, antwortete er, dass er sich ab und zu geduscht habe, aber dass ihn niemand dazu zwang. 2.) ist der Junge sehr unordentlich. Er nimmt sich Dinge, ohne zu fragen und lässt alles herumliegen, so macht er das auch mit seinen eigenen Sachen wie Kleider, Tonbänder, Schulhefte usw. 3.) gehorcht er nicht. Meiner Meinung nach wird Hugo für immer Probleme haben, wenn nicht dringend und unumwunden drastische Maßnahmen ergriffen werden... Offen gestanden, bin ich über Hugos Benehmen zutiefst enttäuscht. Er hat eine völlig falsche Vorstellung von dem Begriff Freiheit. Ich habe von Anfang an und immer wieder versucht, es ihm zu erklären, aber er verstand mich einfach nicht und am Schluss wurde es schlicht unerträglich. Ich bin auf keinen Fall bereit, ihn noch länger bei mir aufzunehmen. Er hat alle Hoffnungen, die ich in seine Zukunft gesetzt hatte, zerstört.“ Lange schien es, dass Hugos Tante recht behalten sollte. Sein Verhalten besserte sich nicht, im Gegenteil. Offensichtlich konnten wir ihm tatsächlich nicht helfen - bis er sich, fast von einem Tag auf den anderen, einer evangelischen Kirche anschloss, was zu einer völligen Kehrtwende in seinem Leben führte. Später studierte er Theologie und Medizin und momentan lebt er in Buenos Aires und macht dort eine Zusatzausbildung.Es ist nicht mein Anliegen, darüber zu berichten, um zu zeigen, was für eine großartige Arbeit wir leisten, denn Hugo verließ uns relativ früh und kam zwischenzeitlich in ein anderes Projekt. Er sagte auch stets: „Alles, was ihr mit mir nicht geschafft habt, das hat Gott bei mir erreicht.” Nein, ich erzähle es vielmehr, um zu zeigen, dass man auch bei den schwierigsten Fällen nie die Hoffnung aufgeben soll. Es ist eine Ehrenbezeigung für alle Menschen, die es trotz einer verlorenen Kindheit und mit einer fast übernatürlichen Anstrengung geschafft haben, aus ihrem scheinbar verpfuschten Leben etwas zu machen. Vor solchen Menschen kann man sich nur verneigen und den Hut ziehen.
Stefan Gurtner, Februar 2017
7. Celso
Celso wurde 1986 in einem Randviertel von La Paz geboren. Sein Vater hat sich nie um ihn gekümmert, wie das leider so oft der Fall ist. Celsos Mutter starb, als er sieben Jahre alt war. Der Vater kam nicht einmal zur Beerdigung. Celso wurde bei einem Onkel und einer Tante untergebracht, wo er putzen und kochen musste. Als er von seinem Onkel misshandelt wurde, riss er aus. Auf der Straße wurde er von der Polizei aufgegriffen und in ein Kinderheim gebracht. Er konnte sich jedoch nicht eingewöhnen, riss erneut aus und lebte wieder auf der Straße, diesmal jedoch traf ihn die ganze harte Wirklichkeit, die das Leben auf der Straße mit sich bringt. Müde und krank kehrte er schließlich wieder zu seinem Onkel und seiner Tante zurück und die Probleme kochten folglich aufs Neue hoch, denn Celso war nicht mehr an ein häusliches und geregeltes Leben gewöhnt. „Ich entschied mich, wieder auf der Straße zu leben. Im Gegensatz zu früher verbrachte ich jetzt mehrere Jahre dort“, berichtete er, als er zu uns kam. „Ich fiel tief, so tief, dass ich nicht mehr an eine Zukunft für mich glaubte – bis mich ein Sozialarbeiter des Jugendamtes zu Tres Soles brachte.“ Die erste Zeit war für ihn allerdings nicht einfach. Er war 12 Jahre alt und so gut wie nie zur Schule gegangen. Er war unterernährt. Seine Zähne waren in einem dermaßen schlechten Zustand, dass sie alle gezogen werden mussten. Er war so kurzsichtig, dass er eine Brille mit dicken Gläsern benötigte und er tat sich schwer mit den Regeln der Wohngemeinschaft. Unser Musiklehrer ermunterte ihn, in der projekteigenen Musikgruppe mitzumachen. Das erste Instrument, das er erlernte, war die ‚Zampoña‘, ein panflötenartiges Instrument aus der Andenregion. Dennoch riss Celso insgesamt noch drei Mal aus, bevor er sich endgültig für Tres Soles entschied. „Am Ende verstand er, dass er weder bei seinem Onkel noch bei seinem Vater willkommen war, der ihn letzthin noch nicht einmal erkannt hatte“, steht im Bericht, den unsere Sozialarbeiterin über alle Jugendliche schreiben muss. „Es macht Celso traurig, dass er seine Mutter so früh verloren und er keine Familie mehr hat.“ Tres Soles wurde gezwungenermaßen zu seiner Familie. Er begann in der Theatergruppe mitzuspielen und in der Nähwerkstatt zu arbeiten, aber was ihn am meisten interessierte, war der Musikunterricht. Er lernte neben der ´Zampoña´ auch Gitarre und andere Instrumente spielen und ging sogar zur Musikschule, um das Klavierspiel zu erlernen. Trotz der Lücken, die er zu Anfang hatte, wurde er ein guter Schüler und schaffte das Abitur. „Ich möchte Musik studieren“, erklärte er unserem Psychologen Lucio, als sich die Frage nach der Berufswahl stellte. „Auch wenn ihr es mir nicht glaubt, die Musik hat mir Halt gegeben, als es mir so mies ging. Ich hatte plötzlich Ziele, ich wollte ´Zampoña´ spielen lernen, dann Gitarre, dann Klavier... deswegen kam ich immer wieder zurück.“ „So, so, also nicht unseretwegen“, brummte Lucio, aber er verstand ihn natürlich. Immerhin ist das die Grundidee unserer Erziehung durch Kunst: eigene Talente zu entdecken und seine Vorstellungen zu verwirklichen. Ein Ziel im Leben zu haben, ist noch immer die beste Vorbeugung gegen zerstörerische Verhaltensweisen, selbst wenn das Ziel letzten Endes nicht erreicht wird. Celso brach sein Musikstudium nach drei Jahren ab, weil es für ihn zu schwierig wurde und er überfordert war. Natürlich waren er – und auch wir – enttäuscht, aber wenigstens verfiel er nicht mehr in sein altes Verhaltensmuster und kehrte dem Milieu, dem er entstammte, endgültig den Rücken. Er ging als Gastarbeiter nach Argentinien, wo er mehrere Jahre in einer Kleiderfabrik arbeitete. Nähen hatte er schließlich in Tres Soles gelernt. Man wirft uns manchmal vor, auch von bolivianischer Seite, dass wir zu viel Zeit und zu viel Geld in jeden Jugendlichen investieren, aber nach unserer Überzeugung kann ein zerstörtes Leben, das auch nur annähernd wieder in geordnete Bahnen kommt, keinen Preis haben!
© Stefan Gurtner, Juni 2017
8. Lucio
Lucio, könntest du ein wenig von deiner (Ursprungs-)Familie erzählen?
Meine Heimatgemeinde liegt an der Grenze zwischen den Departamenten von La Paz und Cochabamba. Es ist eine abgelegene Gemeinde, wo es keine öffentlichen Dienstleistungen wie Strom oder Wasser und auch keine Transportmittel gab. Die Schule ging nur bis zur 5. Grundschulklasse. Es war ein verwahrloster Ort ohne Zukunft. Seit ich mich erinnern kann, hat mein Vater regelmäßig getrunken, meine Mutter geschlagen. Er war verantwortungslos und kannte kein Pflichtbewusstsein. Zurzeit wohnt er in La Paz, ist inzwischen 86 Jahre alt und bis heute verstehe ich mich nicht mit ihm. Ich glaube, dass er erst kürzlich aufgehört hat zu trinken. Ein Grund mag sein, dass er jetzt alleine lebt, denn meine Mutter ist vor zwei Jahren verstorben. Meine Mutter hat viel durchmachen müssen (der Grund war mein Vater), aber sie war eine tüchtige Frau und sorgte immer für mich, solange ich zuhause wohnte. Meine Mutter hat mich geliebt, das ist unbestritten, und sie fand, dass ich liebevoll, fleißig und intelligent bin. Ich habe noch zwei ältere Schwestern und auch einen älteren Bruder. Keiner von ihnen konnte studieren. Im Gegensatz zu mir haben sie nur die ersten Grundschuljahre abgeschlossen.
Wer hat dich auf Tres Soles aufmerksam gemacht und in welchem Alter bist du zu Tres Soles gekommen?
Ich habe Bleche in einer Bäckerei geschrubbt und musste Salteñas (Teigtaschen) in dem Stadtviertel verkaufen, wo sich Tres Soles niedergelassen hatte. In dieser Bäckerei lernte ich einen Jungen, Federico, kennen. Er kannte Tres Soles und brachte mich dorthin. Ich war damals ungefähr 13 Jahre alt.
Wie hast du es geschafft, dich an das Leben und an die Regeln in Tres Soles zu gewöhnen?
Die Regeln waren für mich nicht so ein großes Problem, vielmehr war es schwierig für mich in einem Umfeld zu leben, wo in jener Zeit Diebstähle, Prügeleien und Drogen zur Tagesordnung gehörten. Das Schlimmste war, dass ich das Zimmer mit Jungen teilen musste, die Benzin schnüffelten. Manchmal musste ich mich, aus verschiedenen Gründen, mit den Fäusten gegen sie wehren. Es war jedoch auch ein schönes Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören. Außerdem gab es viel Sport, einige Werkstätten, Tanz in der Diskothek. Durch die älteren Jungs habe ich mich sogar auf der Straße sicher gefühlt, denn einige von ihnen waren sehr „mutig“!
Wie hast du die Übernahme von Eigenverantwortung erlebt?
Auf Grund meiner Ausbildung, meiner Gedanken, die ich mir über die Lehren des Lebens gemacht habe, meiner Fehler und nötiger Korrekturen, meiner Einschränkungen und Leiden, formte sich in mir der Wunsch, jemand zu werden, der anerkannt ist, zunächst auf persönlicher Ebene, dann was meine Frau und meine Kinder anbetrifft und letztlich auch in meiner Arbeit, in der Gesellschaft, in meinem eigenen Land. Der Mensch existiert nur wirklich, wenn er sich für die Menschen und seine Umgebung verantwortlich fühlt.
Welches ist das schönste Erlebnis, an das du dich während deiner Kinder- oder Jugendzeit in Tres Soles erinnern kannst?
Meine Kindheit war vom Sport bestimmt. In meiner Jugendzeit hatte ich bereits Verantwortung für die Gruppe übernommen, auch wenn es vielleicht nicht immer so bedeutsam war. Eine sehr schöne Erinnerung ist die Reise, die wir mit der Theatergruppe nach Deutschland und in die Schweiz gemacht haben.
Wie ging deine Ausbildung nach dem Schulabschluss weiter?
Nach dem Abschluss der Schule und meiner Elektrikerlehre habe ich den Militärdienst absolviert. Nach Beendigung des Dienstes sagte ich mir, dass es nützlich wäre, zu Studieren. Zuerst dachte ich an ein Jurastudium. Manchmal zog ich mir einen Anzug an und spazierte durch Gebäude, in denen sich Büros befanden, und stellte mir vor, Anwalt zu sein. Während meines letzten Schuljahres habe ich in einem Fotokopierladen ausgeholfen. Unter den Kunden waren viele Jurastudenten. Ich glaube, das war der Grund, weshalb ich Jura studieren wollte.
Was ist das Beste, was Guisela, Stefan, die Erzieher und Betreuer dir in Tres Soles vermitteln konnten?
Von den vielen Dingen, die mir Stefan und Guisela vermittelt haben, gehören sicherlich zu den wichtigsten Geduld und Beharrlichkeit, mit der sie die Kinder und Jugendlichen begleiten. Dieselbe Geduld und Beharrlichkeit haben sie auch mir gegenüber bewiesen, das ist der Grund, warum ich ihnen gegenüber immer loyal sein werde. Von Stefan habe ich außerdem gelernt, ebenso im Studium an der Universität, dass ein Projekt wie Tres Soles nicht aufs Geratewohl geführt werden kann, sondern dass es wichtig ist, dass es als legale Einrichtung innerhalb eines verantwortlichen Staates eingebunden sein und eine Struktur haben muss, zu der eine Vision, eine Mission, eine Philosophie sowie Methodik und Aktivitäten gehören. Ich möchte erwähnen, dass ich auch von anderen Betreuern viel gelernt habe, etwa Teamarbeit, die Fähigkeit die Familie mit der Arbeit zu verbinden, die Bereitschaft, immer für die Kinder und Jugendlichen da zu sein, wenn es nötig ist.
Wie kam es, dass du wieder nach Tres Soles zurückgekehrt bist?
Nach meiner Rückkehr aus dem Militärdienst habe ich erst in einer Autowerkstatt gearbeitet. Wie erwähnt, hatte ich den Wunsch, Jura zu studieren. Mein Plan war, zu studieren und gleichzeitig zu arbeiten, um für mich sorgen zu können. Stefan und Guisela boten mir jedoch an, in dem neuen Haus in Cochabamba die Elektroinstallation durchzuführen, da die Wohngemeinschaft dorthin umziehen wollte. Ich habe den Vorschlag angenommen und neben der Arbeit an der Universität von Cochabamba einen Vorkurs gemacht, allerdings in Psychologie. Als ich die Aufnahmeprüfung bestanden hatte, beantragte ich dann eine Unterstützung von Tres Soles, da Tres Soles ein Hilfsprojekt ist, dass Jugendliche bei ihrer Ausbildung unterstützt. Ich glaube, dass ich bis zum zweiten Jahr Unterstützung erhielt, danach konnte ich meine Kosten als Wochenendbetreuer in Tres Soles decken.
Wie sieht deine Aufgabe in Tres Soles heute aus?
Meine Aufgabe gefällt mir sehr. Ich nehme die Rolle eines Vaters ein und gleichzeitig kann ich meine Fachkenntnisse in Psychologie einbringen. Es gibt viel Schönes, aber auch Trauriges und Schreckliches. Mir macht es Spaß, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Interessant ist auch der Austausch mit den verschiedenen Betreuern und den jungen Freiwilligen.
Sollte sich Tres Soles verändern? Hast du einen Traum wie Tres Soles in Zukunft aussehen könnte?
Wenn es eine Möglichkeit gäbe, wäre es hilfreich, die Arbeit in drei Etappen zu unterteilen, mit einer insgesamt größeren Anzahl von Bewohnern. Es wären dann drei getrennte Häuser, eines für Kinder, ein zweites für Jugendliche und ein drittes für junge Erwachsene mit eigenen, handwerklichen Werkstätten für eine Berufsausbildung, mit der Möglichkeit, später ein Universitätsstudium anzuschließen.
Was würdest du deinem Staatspräsidenten Evo Morales gerne sagen?
Wenn er mit Nichtregierungsorganisation (NGOs) wie Tres Soles nicht einverstanden ist, soll die Regierung die Verantwortung für diese Kinder übernehmen, mit denselben finanziellen Mitteln und mit derselben Betreuungsqualität wie es in Tres Soles der Fall ist. Man darf die Realität, ganz besonders die hohe Armutsrate, die in Bolivien immer noch herrscht, nicht unter den Tisch kehren. Die Armut erzeugt Probleme und Bedürfnisse, die die Möglichkeiten einer Familie und des Staates übersteigen. Die verschiedenen Fachleute und Menschen, die in Einrichtungen wie Tres Soles arbeiten, sind wichtig, um den betroffenen Menschen helfen zu können und Lösungen zu finden. Leider haben die Verantwortlichen der staatlichen Stellen nie Interesse gezeigt, unsere Arbeit zu unterstützen. Die Regierung, die angetreten ist, um die Armut zu bekämpfen, hat nie einen einzigen finanziellen Beitrag für die Arbeit in Tres Soles geleistet. Meiner Meinung nach hat die Regierung von Evo Morales Recht, wenn sie denkt, dass die Nichtregierungsorganisationen gegen sie konspirieren könnten. Es sind jedoch nicht alle so - und gerade im Fall von Tres Soles irrt sie sich völlig, denn diese Einrichtung widmet sich ausschließlich der Bildung und Unterstützung von mittellosen und verlassenen Kindern und Jugendlichen. Aus diesem Grund müsste man den Gründern und allen Mitarbeitern von Tres Soles eine Anerkennung zukommen lassen.
Vielen Dank für dieses Interview. Deine Antworten erfreuen alle Menschen, die Tres Soles schon seit langem unterstützen und dies weiterhin tun. Die Fragen stammen von Ursula und Walter Köhli. Walter Köhli ist Präsident des Trägervereins Tres Soles in der Schweiz. Die Übersetzung ist von Stefan Gurtner.
9. Mario
Im Jahr 2017 war ich wieder einmal auf Lesereise, um Spenden für unser Projekt zu sammeln. Mein Weg führte mich u.a. auch nach Hamburg. Ein paar Tage nach der Veranstaltung erhielt ich eine Mail mit dem Betreff: „Tres Soles und eine verpasste Lesung“. Der Wortlaut war folgender:
Lieber Stefan Gurtner,
ich wollte heute so gerne zu Ihrer Lesung hier in Sankt Georg kommen, habe es dann aber leider nicht geschafft. Als ich in der taz von Ihrer Lesung erfuhr, kam mir Ihr Name so bekannt vor, jedoch konnte ich ihn zunächst nicht einordnen. Dann endlich fiel der Groschen: Vor drei Jahren machte ich in El Alto einen kleinen Dokumentarfilm mit einem Clown (https://vimeo.com/141247918). Seine Geschichte war tragisch und herzergreifend. Als Kind hatte er jahrelang auf der Straße leben müssen. Doch eines Tages kam für ihn die Wende: er durfte in Tres Soles leben und bekam dort Brot, Unterkunft und Arbeit. Er zeigte mir sogar ein Buch mit Ihrer Widmung! Sein Name ist Mario Paxi, er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in El Alto und arbeitet als Clown. Im Anhang sende ich Ihnen den Link zu der Dokumentation, in der er und seine Arbeit als Clown portraitiert werden. Voller Dankbarkeit und Freude hat er über seine Zeit in Tres Soles gesprochen. Mit herzlichen Grüßen Thomas Kummer
Als wir im Oktober 2018 unser Ehemaligentreffen, zu dem wir alle 3-4 Jahre einladen, abhielten, kam auch besagter Mario Paxi mit vielen anderen. Das Treffen wurde mit einem „Talentabend“ eröffnet, wo alle, die Lust hatten, künstlerisch etwas darbieten konnten. Höhepunkt war ohne Zweifel der Auftritt von Mario Paxi. Er eroberte die Herzen der Kinder im Handumdrehen. Alle waren förmlich hingerissen, nicht nur die Kleinsten. Mario gehörte Anfang der 90er Jahre zum Projekt. Er ist mit Rosmery, einer anderen ehemaligen Bewohnerin von Tres Soles, verheiratet. Heute arbeitet er mit seinen drei zwischenzeitlich erwachsenen Söhnen als selbständiger Clown und Magier in der Stadt El Alto. Die Kinder waren hingerissen. Als Thomas Kummer von dem Ehemaligentreffen erfuhr, schrieb er mir noch einmal eine Mail:
Lieber Stefan Gurtner, wie schön, dass es zu einem Wiedersehen von Mario mit Ihnen kam. Ich kann mir vorstellen, dass es Mario gut tut, etwas zurückgeben zu können, von dem, was er als Kind alles Gutes von Tres Soles erhalten hat. Gerne können Sie den Link zum Film auf die Website stellen! Mario hatte eigentlich auch darauf bestanden, dass Tres Soles und Stefan Gurtner im Film vorkommen, aber wir hatten dann im Schnitt nicht genügend Material. Auch gab es die Idee, einen längeren Film mit Mario zu machen (sein mittlerer Sohn sollte darin eine größere Rolle spielen). Diese Doku sollte eigentlich nur ein Trailer werden, um Geldmittel zu beantragen. Tatsächlich interessierte sich eine bekannte Hamburger Filmproduktion für das Projekt, sprang jedoch leider wieder ab. Sehr schade! Dabei haben Sie in Tres Soles bestimmt viele Geschichten zu erzählen, die es alle wert wären, verfilmt zu werden...!
Mit herzlichen Grüßen Thomas Kummer
Stefan Gurtner, November 2018
10. "Unsere" Profi-Schauspieler
"Heute möchte ich mich einmal den ehemaligen Jugendlichen von Tres Soles zuwenden, die professionelle Schauspieler geworden sind:
Da gibt es zum einen Lucas Achirico. Er hat seine Ausbildung beim Teatro de los Andes gemacht und war als jahrelanges Ensemblemitglied mit dem Theater weltweit auf Tournee. Wer unsere Tres Soles-Lesung in 2017 miterlebt hat, erinnert sich vielleicht noch daran, dass von ihm die Rede war. In den beiden Tres Soles–Büchern wird er ebenfalls erwähnt. Lucas zieht jetzt mit seiner Familie nach Europa, und zwar nach Polen, da seine Frau Polin ist.
Weiter gibt es zu berichten, dass die beiden ehemaligen Solesianer und Schauspieler Freddy Chipana und Juan José Canazas in einem Kurzfilm über die Schlacht von Suipacha, die während des Befreiungskriegs gegen die Spanier stattgefunden hat, mitgespielt haben. Der Film ist von der Kulturstiftung der bolivianischen Zentralbank finanziert worden und sehr professionell gemacht. Freddy spielt den Indioführer Willka*, Juan José einen Bauern, der dem spanischen Kommandanten absichtlich Falschinformationen liefert. Dieser Film ist auf Youtube zu sehen ("La batalla de Suipacha").
*Anmerkung: Der Indioführer Willka findet auch Erwähnung in Stefan Gurtners neuestem Buch „Doña Isidora und ihre unglaublichen Geschichten- Eine Familiensaga aus Bolivien.
Stefan Gurtner, März 2019
Hier ist die Übersetzung zu einem Artikel über Lucas, der in der bolivianischen Tageszeitung erschien:
Sonntag, 9. September 2018 Lucas Achirico: „Ich verlasse das Teatro de los Andes nicht, im Gegenteil ich nehme viel von ihm mit!“
Nachdem er über zwei Jahrzehnte lang Mitglied der Theatergruppe war, verlässt der Schauspieler seinen Heimatort Yotala, um in Polen mit seiner Familie ein neues Abenteuer zu wagen. Mabel Franco, Journalistin, lässt sein Leben und seinen Sprung in die Theaterwelt Revue passieren.
Lucas Achirico, der Schauspieler aus dem Volk der Aymara vom Teatro de Los Andes in Yotala. Foto: Mabel Franco
Im Jahr 2004 mieteten Lucas Achirico und seine Lebensgefährtin, die Polin Danuta Zarzyka (Danka), ein kleines Haus in Yotala an - von der Hazienda Lourdes, wo das Teatro de los Andes beheimatet ist, nur durch den Fluss, dem Cachimayude, getrennt, der mitten durch das Dorf fließt. Der junge Mann, der damit einen weiteren Schritt auf seinem persönlichen Lebensweg machte, hatte sich schon Ende 1991, mit 17 Jahren, der von César Brie und Paolo Nalli geleiteten Theatergruppe angeschlossen. Er erinnert sich, dass es ihm gefiel, an einem so friedlichen Ort wie Yotala leben zu können. Eine Woche nach ihrem Umzug dorthin erlebten sie allerdings eine unangenehme Überraschung: Auf dem Dach ihres Hauses erblickten sie ein zitterndes Kind, das immerzu schrie: „Meine Mutter will mich umbringen." Lucas und Danka halfen dem Kind vom Dach herunter und brachten es in ein Kinderheim. Die Leiterin hingegen reagierte unbeeindruckt mit den Worten: „Gegen diese Mutter liegen bereits mehrere Beschwerden vor, und immer wegen häuslicher Gewalt“. Lucas und Danka, die bereits eine einjährige Tochter hatten, beschlossen, die Mutter aufzusuchen. „So erfuhren wir, dass sie tagsüber in Sucre arbeitete und nachts ihren (Wach-)Dienst in der Universität von Yotala tat. Frühmorgens schon kochte sie für ihre vier Kinder, darunter eine Tochter, die krank war und das Haus nicht verlassen konnte, und für einen betagten Vater, der sich kaum bewegen konnte. Lucas erinnert sich an die dunklen Ringe unter den rotgeränderten Augen der Mutter, die, so das Gerücht der Nachbarn, selbst ein Opfer von Inzest war. Sensibilisiert durch ihre Arbeit und Erfahrung in der Theatergruppe betrachteten Lucas und seine Lebensgefährtin, ebenfalls Künstlerin, das idyllische Dörfchen von nun an mit anderen Augen. „So haben wir bemerkt, wie in der Nacht alle möglichen Figuren aus den Häusern hervorkamen: Kleinwüchsige, Behinderte, Menschen mit Down-Syndrom...“ Dass all das, einschließlich des Vorfalls mit dem Kind, offensichtlich zur Normalität zählte, veranlasste die beiden, nach einer Ausdrucksform zu suchen, die deutlich macht, dass Gewalt niemals normal sein kann. Lucas und Danka beschlossen, ihrer Theatergruppe ein Theaterstück über häusliche Gewalt vorzuschlagen. César war begeistert, und so begann ein Prozess umfassender Recherche, es wurde dokumentiert, Szenen ausprobiert und dem neuen Stück Leben eingehaucht: „Te duele?“ – „Tut es dir weh?“ Heute, am 25. August 2018, bereit für den Umzug, um mit seiner Partnerin Danka und seinen Töchtern Naomi und Mischa in Polen zu leben, die bereits voraus gereist sind, blickt Lucas noch einmal zurück. Und er bekräftigt, dass er dieses Stück, -das Bühnenbild zeigte einen Boxring-, als seinen wichtigsten Beitrag erachtet „Und weisst du, jedes Theaterstück, an dem ich mitgearbeitet habe, ist wie ein Kind für mich. Jedes unserer Stücke basiert auf eindrucksvollen Geschichten.“ (Von „Colón“/„ Kolumbus“ bis „Un buen morir“/„ein guter Tod“, für das er die Musik komponiert hat!) „Mag sein, dass ich in einem der Theaterstücke vielleicht mehr gelernt habe, in einem anderen wiederum gelang es mir Neues für mich zu entdecken, aber wo ich am meisten gesucht und gerungen habe, das war das Stück über häusliche Gewalt. Gewalt in der Familie habe ich nach der Trennung meiner Eltern als Jugendlicher selbst erlebt, als ich einen Stiefvater bekam.
Achirico mit seiner Ehefrau in einer Szene des Stücks ¿Te duele?
Lucas wurde im Minendistrikt Chojlla geboren. Seine Mutter wanderte Ende der 80-er Jahre, bereits ohne ihren Mann, mit den beiden Söhnen nach La Paz aus. Die Familie ließ sich in El Alto nieder und dort begann der kleine Lucas von Musik zu träumen, inspiriert durch die Folkloregruppe, die sein älterer Bruder gegründet hatte. Der Jugendliche besuchte das Hilfszentrum für mittellose Kinder und Waisen einer evangelischen Kirche. „Und ich fing an, mich mit Musik zu beschäftigen, aber ich musste bald feststellen, dass es durch die Kirche viele Beschränkungen gab – auch in der Musik. Durch einen Freund, der Mitglied einer ‚Gruppe von Angehörigen politischer Gefangener, die verschwunden oder ermordet worden waren‘, bekam ich erstmals die Gelegenheit in der Öffentlichkeit aufzutreten.“ Lucas, 14-jährig, und einige Gleichaltrige: „Wir hatten fünf Stücke vorbereitet und spielten sie in einer dieser Versammlungen; man bat uns um Zugaben, aber wir mussten ihnen erklären, dass das alles war, was wir vorbereitet hatten. Die Leiterin des Vereins ermutigte uns jedoch: Spielt einfach alles nochmal! Und sie gab uns den Rat, an der einen oder anderen Musikwerkstatt wie zum Beispiel in El Alto teilzunehmen.“ Nach langem Suchen in der Zone „16 de Julio“ fanden die Jungen endlich besagten Ort, der sich als Heim für verlassene Kinder (HAPMA)/ „Hogar Albergue Para Menores Abandonados“ – heute Tres Soles - herausstellte und von dem Schweizer Stefan Gurtner geleitet wurde. „Da habe ich mit Jugendlichen Kontakt bekommen, die einerseits Erfahrungen als Straßenkinder und andererseits Umgangsformen hatten, die mir völlig fremd waren. Ich war sehr zurückhaltend, aber sie haben mich akzeptiert mich wegen meiner Musik und weil ich sehr gut Fußball spielen konnte.“ Am Ende dieses Jahres ergab sich die Gelegenheit herumzureisen und aufzutreten. Musiker und Akteure der HAPMA/Tres Soles, insgesamt etwa 30 Jugendliche, fuhren von Hauptstadt zu Hauptstadt der einzelnen Departamente. „So lernte ich das Land kennen und auch was es heißt, einer Gruppe anzugehören.“ Lucas spielte auf dem Charango (ein Seiteninstrument mit Gürteltier-Resonanzkörper) sowie auf einigen Blasinstrumenten, welche er zusammen mit drei Mitschülern erlernt hatte. Mit ihnen gründete er eine Musikgruppe, wobei sie die Abmachung trafen, niemals Alkohol zu trinken. „Das hat mich geprägt!“ Was ihn ebenfalls geprägt hat, aber auf schreckliche Weise, war sein Stiefvater, mit dem er sich überhaupt nicht verstand. „Mit 15 habe ich angefangen, mich zu wehren und mir war klar, dass das nicht gut ausgehen würde. Aber ich hatte einen Trumpf im Ärmel: Das Heim von Stefan, wo ich Unterschlupf suchte, als ich 16 Jahre alt war. Es ereignete sich auf einer Reise nach Sucre, die wir unternahmen, um im Teatro „3 de Febrero“ aufzutreten, als mich César Brie und Naira Gonzales zum ersten Mal sahen“; (das sind die beiden, die zusammen mit Nalli das Teatro de los Andes gegründet haben. ) Ende 1991 kamen dann die beiden auf ihn zu und fragten ihn, ob er Interesse an einem Theaterkurs habe. „Ich wollte damals weg aus La Paz. Das Schuljahr hatte ich nicht geschafft, woraufhin ich mein Zeugnis zerrissen habe“. So nahm er das Angebot an, in der Annahme, dass es sich bei dem Kurs um Weiterbildung für Musik handelte. Im März 1992 wurde er als Schüler Teil des Teatro de Los Andes. Der Workshop fand im Theater „Gran Mariscal“ mit etwa 20 Personen statt. „Mein erster Eindruck war: Wo bin ich hier nur gelandet?! Anfangs hat mich irritiert, dass alle einen Bart trugen und ich habe sie immer alle verwechselt: César, Paolo Filippo, Emilio – alle schienen sie mir gleich auszusehen.“ Und so kam es, dass „ich das Theater entdeckt habe“. Alles, was man dort machte, „gefiel mir, denn auch wenn wir keinen Musikunterricht hatten, haben wir doch alle auf Musikinstrumenten gespielt, wir haben gesungen und zudem noch Akrobatik gelernt.“ Dennoch wurde der Aymara Lucas von Heimweh geplagt. „Ich habe versucht, mich aufzumuntern, indem ich mir die Leute vor Augen hielt, die von viel weiter weg hergekommen waren. Trotzdem war ich traurig, weil mir die Umgebung fremd war. Zum Glück gab es Gonzalo Callejas, auch ein bolivianischer Jugendlicher, ein Quechua, der ebenfalls an diesem Kurs teilnahm, weil er dachte, es handle sich um eine Weiterbildung als Schreiner! Und siehe da „wir wurden sehr gute Freunde“. Ein Schüler der Lebensschule Lucas hatte den festen Vorsatz, wieder in die Schule zu gehen. Und so besuchte er tatsächlich für ein halbes Jahr das anerkannte „Colegio Junín“ im Tradition geprägten „Monteagudo“ von Sucre. Dann wechselte er allerdings in das Colegio Santa Rosa in Yotala. Die Direktorin war eine argentinische Ordensfrau, die Lucas nahelegte, sich anzustrengen. Einen Monat später war es Zeit für die erste landesweite Tournee. Um die Erlaubnis zu erhalten, half César ihm, einen Ordner mit Presseberichten über die Theatergruppe zusammenzustellen. „Wir gingen zusammen hin und betraten das Büro der Direktorin. César informierte sie über die Tournee und überreichte ihr die Mappe mit den Zeitungsartikeln. Die Direktorin warf nicht einen Blick darauf, sondern schleuderte sie zu Boden. Es entwickelte sich eine derart laute Diskussion, dass ich jetzt noch die Gesichter meiner Schulkameraden vor mir sehe, die vom zweiten Stock her völlig verängstigt nach unten schauten. Wir verließen das Zimmer und damit war meine schulische Laufbahn beendet.“ Lucas spricht Italienisch und ein wenig Englisch. Sein Wortschatz im Spanischen ist beachtlich, was auch von seinem Aymara anzunehmen ist. Er kennt mehr von der Welt als der bolivianische Durchschnittsbürger, ist er doch als Teil des Teatro de los Andes weit herumgekommen. „Aber noch viel mehr habe ich von den Personen gelernt, auf die ich hier, im Teatro de los Andes, getroffen bin, durch den Austausch von Informationen, durch Gespräche- so wie heute beim Mittagessen über jugendliche Schwangere- durch jedes Theaterstück, jedes Thema, jede Auseinandersetzung, jeden Film, den wir gesehen haben. Jedes Theaterstück bedurfte umfassender Recherche und Dokumentation als wäre es eine Abschlussarbeit für die Uni.“
Achirico mit Gonzalo Callejas in einer Szene aus “La Odisea“
Und wie steht’s mit der Musik? „Zunächst habe ich mich mit dem Noten lesen befasst und danach habe ich daran gearbeitet, mein Gitarren-, Violinen- und Cellospiel zu verbessern. Aber da wir eine Theatergruppe sind, haben wir natürlich auch viel mit dem Körperausdruck und akrobatischen Bewegungen experimentiert. So gesehen bin ich schon ein Musiker, aber ich hatte das Gefühl, dass ich immer noch nicht alles perfekt beherrschte, obwohl ich sagen muss, dass ich schon noch einiges dazu gelernt habe, eben wie man die Musik angehen muss, um Ideen und Gedanken musikalisch umsetzen zu können.“ Ein jüngstes Beispiel ist die Arbeit von Lucas in dem Stück „Un buen morir“/“Ein guter Tod“, konzipiert von Gonzalo Callejas* und Alice Guimaraes, in dem die Musik zu einem zusätzlichen Protagonisten mutiert. Da es die erste Gruppenarbeit war, an der ich nicht beteiligt war, konnte ich meine musikalische Arbeit weit objektiver gestalten. In den Vorschlägen, die meine Kollegen machten, bzw. in deren Ideen erkannte ich vieles wieder, was wir in verschiedenen Workshops erarbeitet hatten. Es waren Impulse, die mir zeigten, welche Richtung ich musikalisch einschlagen musste, und so habe ich alle Stücke selbst komponiert bis auf eines; das war bereits bekannt von einem unserer anderen Theaterstücke, die wir erarbeitet hatten.“ Diese Musik auf dem Computer zu komponieren, stellte eine große Herausforderung an Lucas’ Fähigkeiten dar. Es ist ein weiteres Universum, das er erforschen will und das Teil seines Gepäcks ist, das er nach Polen mitnimmt, und das er nach und nach auspacken wird, während er die polnische Sprache erlernt. "Ich werde mein Leben hier sehr vermissen, aber die Entscheidung ist gefallen. Es ist Naomi, meine 15-jährige Tochter, die mich dazu gebracht hat, das zu akzeptieren, worum mich meine Partnerin Danka schon lange gebeten hatte. Da Naomi singt, sah ihre Patin, Teresa Dal Pero, ein ehemaliges Mitglied des Teatro de los Andes für sie als Sängerin keine Möglichkeit mehr, sich in Bolivien weiter zu entwickeln.“ In Polen dagegen wurde sie problemlos in einem Institut aufgenommen, wo sie die Schule beenden und Musik erlernen kann, und zwar viel leichter als hier in Bolivien. Lucas ist überzeugt, dass die Distanz, die im November nächsten Jahres Realität werden wird, rein geografischer Natur ist. "Es ist keine Trennung vom Teatro de los Andes; ich werde sehen, ob ich Projekte auf den Weg bringen kann, um von dort aus (von Polen) weiterhin meinen Beitrag leisten zu können. Nach 27 Jahren in der Gruppe ist es nicht einfach, zu gehen.“ Deshalb ist Lucas Achirico überzeugt: "Ich verlasse das Teatro de los Andes nicht, im Gegenteil ich nehme viel von ihm mit". * Gonzalo Callejas ist der bolivianische Jugendliche, mit dem sich Lucas als Jugendlicher im Teatro de Los Andes angefreundet hatte.
11. Frederico Chipana und sein "Lebensprojekt"
Federico ist ein ehemaliger Solesianer und wohnte als Jugendlicher zwischen 1989 und 1995 in Tres Soles, damals HAPMA. Er engagiert sich für den Umweltschutz und bezeichnet sich selbst als „Volkserzieher“. Im Jahr 2012 gründete er „Proyecto de vida“ mit dem Ziel, die Lebensqualität der Menschen seiner Heimatstadt El Alto zu verbessern. Eines seiner Hauptanliegen ist die wachsende Umweltverschmutzung. Wenn man einen Bolivianer zu diesem Thema befragt, heisst es meistens sofort: „Das ist ein Problem der Industrieländer, wir haben ganz andere Probleme und Prioritäten.“ Dass die Umweltverschmutzung jedoch auch in Bolivien ein wachsendes Problem ist, das die Bevölkerung allmählich in Mitleidenschaft zieht, zeigt auf erschreckende Weise der nachfolgende Zeitungsartikel. Der Bericht in der bolivianischen Tageszeitung „El Diario“ aus dem Jahr 2018 befasst sich mit den Aktivitäten der Umweltorganisation "Casa de la Solidaridad - Proyecto de Vida" an den Ufern des Titicaca-Sees, die von ihrem Leiter und Gründer Federico Chipana koordiniert und von den jungen Freiwilligen der Partnerorganisationen, mit denen sie zusammenarbeitet, begleitet wird und ist aktueller denn je. (Übersetzung Stefan Gurtner)
https://www.eldiario.net/noticias/2018/2018_08/nt180813/nacional.php?n=36&-acopiaron-30-toneladas-de-basura-en-cohana
BOLIVIEN, 13. August de 2018 Bewohner ertragen jahrzehntelange Vernachlässigung durch die Behörden Es wurden 30 Tonnen Müll gesammelt Dutzende von Gemeinden leiden unter der hohen Verschmutzung der Flüsse, die durch die Einleitungen aus den Gemeinden El Alto und Laja, Mikroben aus Krankenhäusern sowie durch die gefährlichen toxischen Einleitungen aus dem Bergwerk Milluni verursacht werden. Lokale Politiker fordern erfolglos Wasseraufbereitungssysteme.

BEWOHNER LEIDEN UNTER HOHER UMWELTVERSCHMUTZUNG IN DER REGION DES TITICACASEES
Die Einwohner der Gemeinde Cohana am Ufer des Titicaca-Sees sammelten mindestens 30 Tonnen Müll an den Ufern des Pallina-Flusses. Eine "Armee" von Freiwilligen, Schülern, Anwohnern und Soldaten machte sich an die Arbeit, um die Auswirkungen der Umweltverschmutzung zu lindern, die das Seegebiet und mehr als 10.000 Familien, die in der Umgebung leben, betreffen. Die Initiative wurde von der Nichtregierungsorganisation "Proyecto de Vida" (Lebensprojekt) gefördert, die zusammen mit den Einwohnern der Gemeinden Pucarani und Cohana während einer zweitägigen Aufräumaktion etwa die oben genannte Menge an festen Abfällen sammelte. Die Bucht von Cohana befindet sich 84 Kilometer von La Paz entfernt in der Gemeinde Pucarani in der Provinz Los Andes. Hier münden die Flüsse Seke und Seco von El Alto in den Fluss Pallina, der beim Eintritt in die Bucht zum Fluss Katari wird. "Es waren zwei anstrengende Arbeitstage. Am kritischsten war es in der Gegend von Wila Jawira. Wir waren überrascht in welchem Ausmaß sich dort Müll angesammelt hatte, es waren geradezu kleine Müll-Inseln. Wir glauben allerdings, dass diese Kampagne ein Erfolg war. Die Resonanz, die wir von sozialen Organisationen, Bürgermeistern, Technikern und den Einwohnern selbst erhielten, war gut", sagte der Leiter der Aktion, Federico Chipana. Er erklärte, dass der Müll in den kommunalen Deponien der Gemeinden Pucarani und Viacha entsorgt wurde. Im vergangenen Juni traf ein Presseteam von EL DIARIO in Cohana ein, um das Ausmaß der Umweltschäden zu demonstrieren, die durch die Kontamination der beiden „El Alto-Flüsse“ verursacht werden, nämlich dass alle Arten von Abfällen in die Flüsse Katari und Pallina gelangen, die dann in die Bucht münden. Die Mitglieder des "Proyecto de Vida" trafen sich mit den lokalen Behörden, um die Aktivitäten angesichts des Ausmaßes dieses Problems zu planen, das die Lebensqualität der Bewohner in der Region beeinträchtigt und die Ökosysteme des Titicacasees gefährdet, wie z.B. den Verlust einheimischer Pflanzen-, Fisch- und Vogelarten.
SCHULE "Diese Art von Kampagne ist wichtig. Auch wir als Schule sind mit dabei, um unsere Kinder auf die Umweltverschmutzung aufmerksam zu machen, von der die Gemeinde Cohana stark betroffen ist", sagte Maritza Castillo, eine Grundschullehrerin. Ausgerüstet mit Gummistiefeln, Handschuhen, Hacken und anderen Materialien begaben sich mehr als hundert Freiwillige in die eisigen Gewässer der Bucht, um Plastikflaschen, Säcke, Schutt, Tierkörper und eine große Menge Müll zu sammeln - Müll, der täglich in El Alto anfällt und über die Flüsse in die Gewässer von Cohana gelangt. Etwa 10.000 Familien leiden unter der starken Verschmutzung durch die Abwässer von El Alto und der Milluni-Mine, die über den Katari-Fluss in den Titicaca-See fließen. Der Schmutzfleck erstreckt sich über mehr als einen Kilometer.
VERSCHMUTZUNG Tausende Familien in der Bucht sind einer hohen Verschmutzung durch sowohl feste als auch flüssige Einleitungen aus El Alto sowie durch die Produktionsabfälle der Milluni-Mine ausgesetzt. "In den 1980er Jahren war das Wasser des Flusses Katari sauber und kristallklar, aber die Verunreinigung durch die Flüsse von El Alto hat das Wasser unserer Flüsse, die die Bucht von Cohana erreichen, verunreinigt", sagte Esteban Mamani, Obmann der Provinz Los Andes. 1984 überschwemmte das Wasser des Titicacasees viele Hektar Land in der Bucht, wie auch Bereiche, die an den Ufern des Oberlaufs des kleineren Sees liegen, wo sich die Verschmutzung besonders konzentriert. In den letzten 30 Jahren wurde dieses Seebecken von den den Städten El Alto, Viacha und Laja durch deren Abfälle derart belastet, was die Gewässer der Bucht und sieben ländlicher an den Ufern des Sees gelegenen Gemeinden ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen hat.
Das Presseteam wählte für seine Beobachtungen die Stelle aus, wo es die hohe Kontamination des Wassers, das in den kleineren Titicacasee fließt, in Augenschein nehmen konnte. In der Nähe des Standorts erreicht der ekelerregende Geruch des Abwassers die Gemeinden Katarjahuira und Chojasiwi, die die höchste Umweltverschmutzung aufweisen.
GEFÄHRLICHE LEBENSBEDINGUNGEN Das Wasser des Flusses Katari ist rötlichgrün, was auf das Vorhandensein von Schwermetallen zurückzuführen ist, die sich über mehr als einen Kilometer erstrecken. Tierkadaver, Plastikflaschen aller Art, Schutt, mineralogische Abfälle aus der Milluni-Mine und Tausende von Nylontüten sind darin zu finden. Auch infektiöse Abfälle aus Krankenhäusern, Tierhäute aus illegalen Schlachthäusern und sogar menschliche Überreste sollen dort reichlich vorhanden sein, wie die Dorfbewohner berichteten. Die jüngsten Regenfälle haben die Situation noch verschärft, da der Katari-Fluss aufgrund der großen Menge an verseuchtem Material die Gemeinden Wilajahuira, Katarjahuira, Chojasiwi, Cohana Grande, Talachi, Pacollo und Puerto Jajachi an den Ufern der Cohana-Bucht in Mitleidenschaft zieht. Das nahe am Seeufer wachsende Schilf dient als natürlicher Zaun, um Plastikmüll aufzuhalten, wohingegen der Grund und Boden schwarz gefärbt ist und der Gestank sich bereits in einer Entfernung von hunderten von Metern bemerkbar macht.
PRODUKTION Die Verschmutzung des Sees zwang die Bewohner von Cohana und sieben weitere Gemeinden, ihre Lebensweise vom Fischfang auf Viehzucht umzustellen, mit wenig Glück, weil das Trinkwasser fehlt. Betroffen waren auch die Fischarten, die in der Nähe des Schilfgürtels beheimatet waren. Gegenwärtig gibt es keine einheimischen Arten mehr, darunter Ispi, Mauri, Karachi und eine weitere, K'ese genannte Art, sie alle sind verschwunden, wie Trifón Condori, Generalsekretär der Pampa Cohana-Gemeinschaft, anprangerte. Sein Amtskollege aus der Provinz Los Andes, Esteban Mamani, forderte von den Behörden den Bau von Kläranlagen, um die Auswirkungen der hohen Umweltverschmutzung abzumildern. "Als Behörde fordern wir von der Regierung den Bau von Kläranlagen und die Beendigung der Verschmutzung unseres Sees", so seine Worte.
12. Omar Callisaya
Omar Callisaya ist ein ehemaliger Solesianer, der seit seiner frühen Kindheit bis zum Abschluss seiner Ausbildung an der Theaterschule in Sta. Cruz ein Mitglied von Tres Soles war. Der Schauspieler war 2020 nicht nur auf dem Hamburger Festival in dem Film „Chaco“ zu sehen sondern auch in der Schweiz in dem erfolgreichen Stück „Palmasola“. Das in Fachzeitschriften vielbesprochene Stück handelt von einem Gefängnis namens Palmasola in Sta. Cruz, einem „der berüchtigsten Knäste“ der Welt! Wegen der Pandemie musste die Tournee jedoch abgebrochen werden. Anfang des Jahres 2022 (28.-30. 01.,Kammerspiele, München/ 4.- 6. 02.,Berlin, Theater Ballhaus Ost) konnte die Tournee endlich fortgesetzt werden. Barbara und Stefan Heumann, unsere Freunde und Verantwortlichen für die Internetseite, denen wir an dieser Stelle herzlich für ihren unentwegten Einsatz danken, haben die Aufführung in München gesehen.
Hier ist ihr interessanter Bericht:
Aufführungsort ist eine große Halle, die mehr oder weniger leer ist. Das Stück beginnt schon im Vorraum, wo wir dichtgedrängt auf den Einlass in das „Gefängnis“ warten. Jeder erhält (von Omar als Polizist) einen Stempel auf die Hand, den man nicht entfernen darf, da man sonst nicht mehr aus der Halle (dem „Gefängnis“) kommt. In der Halle angekommen vermisst man Stühle, auf denen man sitzen kann. Indem wir in der Halle herumstehen oder -laufen, spielen wir unbewusst die Gefangenen im Knast. Vier Schauspieler (3 Bolivianer bzw. Bolivianerinnen und ein Deutscher) spielen um uns herum, spielen zwischen der Menge und zwingen die Gefangenen (Theaterbesucher) hin und her zu laufen, zu sprinten oder sich auch nur zu drehen, um das Geschehen zu verfolgen. Die Stadt im Gefängnis ist in Sektionen eingeteilt. Diese spärlichen Bühnenaufbauten der Sektionen sind an verschiedenen Ecken der großen Halle zu finden. Die Brutalität, die die Schauspieler überzeugend zeigen, ist schon sehr bedrückend. Die Akteure sind die brutalen Anführer unterschiedlicher Gangs, die die Gefangenen, also uns Theaterbesucher, permanent drangsalieren und für ein bisschen Freizügigkeit Geld fordern. Ständig sind wir Zuschauer in Bewegung, um immer auf Höhe der Handlung zu sein. Manchmal muss man aufpassen, nicht umgerannt zu werden. Toll gemacht – nur für Wirbelsäulengeschädigte, wie mich, etwas schmerzhaft. Ich habe aber die 100 min tapfer überstanden. Einige Zuschauer haben sich entlang der Wände, dort wo es Platz gab, hingesetzt. Man konnte auch einen angebotenen Klappstuhl mit sich herumtragen, was aber bei der Bewegung des Stückes eher nicht sinnvoll war. Der Beifall war gigantisch. Es war wirklich eine tolle Performance. Die Schauspieler spielten in Spanisch, aber die deutsche Übersetzung wurde an drei Seitenwände projiziert. Nach Ende der Vorstellung konnte man an die Akteure, an einen Journalisten (offensichtlich Bolivianer), an den Regisseur und an den Produzenten Fragen stellen. Wir waren erstaunt, wie viele Zuschauer davon Gebrauch machten. Gegen 22:30h (Beginn war 19:30h) ging ein tolles Erlebnis zu Ende.
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